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Philipp Wehrli, 14. Februar 2011, ergänzt durch Beispiele am 21. November 2011 und im Dezember 2012
Der Neoliberalismus basiert auf der Idee, dass jeder Marktteilnehmer, wenn er nur seine Eigeninteressen verfolge, zum Wohl der gesamten Gesellschaft beitrage, ohne es bewusst zu wollen. Den Marktteilnehmern solle daher die grösstmögliche Freiheit gewährt werden. Ich zeige hier an einem einfachen Beispiel, dass zusätzliche Freiheiten auch zu höheren Kosten für alle führen können.
Die Idee der Neoliberalisten ist so bestechend, dass sie kaum je grundsätzlich in Zweifel gezogen wird. Jeder Produzent hat das Ziel, so kostengünstig wie möglich zu produzieren. Gesetze und Grenzen können daher nur zu einer Steigerung der Kosten führen. Auf der anderen Seite wollen die Konsumenten möglichst günstig einkaufen. Wird eine Ware teurer verkauft als nötig, so gehen die Konsumenten zu einem Konkurrenten. Wenn es keinen Konkurrenten gibt und die Preise längere Zeit zu hoch sind, dann ruft die Nachfrage einen Konkurrenten ins Leben, der auch mit einem tieferen Preis noch einen Gewinn macht.
Die naheliegende Schlussfolgerung der Neoliberalen ist, dass die Überwindung aller Grenzen und Gesetze durch Globilisierung und Liberalisierung letztlich allen Menschen zugute kommt. Globalisierung und Liberalisierung werden oft und z. T. heftig kritisiert. In der Kritik wird dann jeweils aufgezeigt, dass einzelne Menschen bei einem Wegfall von Grenzen und Gesetzen einen Nachteil hätten und geschützt werden müssten. Ich zeige hier etwas anderes, nämlich:
Es gibt Gesetze und Grenzen, die allen Menschen mehr Freiheit geben. Wenn diese Gesetze abgeschafft oder wenn diese Grenzen geöffnet werden, engt dies den Spielraum aller Menschen ein.
Dies ist eine ökonomische Variante des sogenannten Braess-Paradoxons. Der Mathematiker Dietrich Braess zeigte nämlich 1968, dass zusätzliche Freiheiten zu einer Verschlechterung der Situation für alle führen kann, auch wenn alle Beteiligten durchaus rational entscheiden. So kann z. B. der Bau einer zusätzlichen Strasse dazu führen, dass alle Beteiligten langsamer ans Ziel kommen. Leider findet man zu diesem sogenannten Braess-Paradoxon im Internet zwar diverse Beispiele aus dem Strassenverkehr, aber kaum Beispiele aus der Ökonomie. Ich zeige hier, dass wir das Braess-Paradoxon auch in der Wirtschaft im Auge behalten müssen. Die Aufhebung aller Grenzen kann dazu führen, dass alle Beteiligten teurer produzieren, obwohl sie stets nach der kostengünstigsten Produktion suchen.
Angeregt ist das folgende Beispiel durch eine Zeitungsmeldung, nach der Kartoffeln aus Deutschland zum Waschen nach Spanien transportiert werden und danach wieder nach Deutschland zurück. Nach der Theorie des Neoliberalismus führen solche Transporte in einer wirklich freien Marktwirtschaft zu minimalen Kosten. Denn die Kartoffeln werden ja nur dann nach Spanien transportiert, wenn dadurch beim Waschen mehr gespart werden kann, als der Transport kostet. Bei den Subventionen in der Landwirtschaft muss man natürlich bezweifeln, dass in diesem Beispiel die Marktwirtschaft tatsächlich so frei ist, dass die Kosten minimiert werden. Neoliberalisten weisen deshalb bei solchen fragwürdigen Resultaten die Schuld den staatlichen Regelungen und dem Protektionismus zu und sagen: “Wenn der Staat sich nicht einmischen würde, würde die unsichtbare Hand des Marktes für ein optimales Preis-Leistungs-Verhältnis sorgen.”
Betrachten wir dazu ein beliebiges Produkt, das in zwei Schritten produziert werde. Nehmen wir an, eine Firma in Deutschland produziert das Produkt so, dass der erste Schritt 40.- Euro und der zweite 50.- kostet. Eine Firma in Spanien produziert das selbe Produkt bei Kosten von 50.- Euro für den ersten Schritt und 40.- Euro für den zweiten. (Abbildung 1). Wenn es nicht erlaubt ist, das halbfertige Produkt über die Grenze zu bringen, sind also die Kosten 90.- Euro.
Abbildung 1. Wenn das Produkt innerhalb der Landesgrenzen produziert werden muss, kostet es in beiden Ländern 90.- Euro. Wären die Grenzen offen, so könnte man den ersten Schritt in Deutschland und den zweiten in Spanien produzieren und die Kosten auf 80.- Euro senken. Ich nehme hier an, die Transportkosten seien vernachlässigbar.
Vor dem Hintergrund des obigen Beispiels leuchtet die Forderung der Neoliberalen und Globalisierungsbefürworter sofort ein: Die Grenzen und Gesetze führen zur Verteuerung für alle, also müssen sie weg. Denn ohne Grenzen würde jede Firma den ersten Schritt in Deutschland und den zweiten in Spanien ausführen, wodurch die Kosten minimal wären. Der Konkurrenzdruck würde dazu führen, dass die Firmen auch tatsächlich so produzieren und die Ersparnis den Konsumenten weiter geben.
In der Praxis ist es aber oft so, dass die Kosten pro Stück auch von der produzierten Menge abhängen. Eine kleine Menge Kartoffeln kann man vielleicht recht billig produzieren. Aber wenn die Menge grösser wird, müsste man auch weniger geeignete Felder bepflanzen oder die Felder mehr düngen, was zu höheren Kosten führen würde. Wenn ein Arbeitsschritt sehr energieintensiv ist, kann er neben einem Elektrizitätswerk vielleicht billig durchgeführt werden. Sobald die Leistung dieses Werks überschritten wird, wird die Produktion möglicherweise viel teurer.
Nehmen wir also einmal an, wenn beide Firmen einen Arbeitsschritt im selben Land machen, erhöhen sich die Kosten für diesen Schritt um 8.- Euro, weil irgendein Engpass entsteht. Was passiert, wenn die Grenzen geöffnet werden? Beide Firmen werden nun den ersten Schritt in Deutschland machen und zwar für 48.- Euro, weil eben irgendein Gut knapp wird. Ebenso werden beide den zweiten Schritt in Spanien machen und dies ebenfalls zu 48.- Euro. Die Gesamtkosten kommen für beide Firmen auf 96.- Euro, also 6.- Euro höher, als wenn die Grenzen geschlossen wären! (Abbildung 2)
Abbildung 2. Werden die Grenzen aufgehoben, verteuert sich das Produkt auf 96.- Euro, obwohl alle Marktteilnehmer völlig rational handeln.
Natürlich ist die Realität komplizierter als mein Beispiel hier. Das Beispiel zeigt aber, dass die Grundannahme des Neoliberalismus falsch ist. Es ist keineswegs immer so, dass die Reduzierung von Grenzen und der Abbau von Gesetzen zur Kostensenkung führt. Grössere Freiheit kann paradoxerweise auch ein Nachteil sein, und zwar für alle Beteiligten!
Wie gross der durch die Liberalisierung und Globalisierung angerichtete Schaden tatsächlich ist, ist nicht abzuschätzen, ebenso wie auch der Nutzen kaum geschätzt werden kann. Wir können aber – entgegen der Annahme der Neoliberalen – nicht voraussetzen, dass Liberalisierung und Globalisierung keine Nachteile bringen. Dabei rede ich nicht von sozialen Kosten durch Arbeitslose im teureren Land. Dass Neoliberale die sozialen und die ökologischen Kosten nicht berücksichtigen, wird ja seit langem kritisiert. Das obige Beispiel zeigt vielmehr, dass Liberalisierung möglicherweise auch unter rein ökonomischem Gesichtspunkt falsch ist. Die Grundannahme der Neoliberalen ist falsch. Es wäre dringend nötig, wissenschaftlich zu untersuchen, unter welchen Umständen Gesetze und Grenzen für alle ein Vorteil sind und wann sie zu einer Einengung führen.
Weitere Beispiele für das Braess-Paradoxon
Es klingt überraschend, dass ein Gesetz die Freiheit vergrössern kann. Ich denke aber, bei guten Gesetzen ist dies die Regel. Wie schon Schiller im Willhelm Tell zum Schweizerischen Bundesbrief schrieb: “Jetzt seid ihr frei, ihr seids durch dies Gesetz.” Hier einige weitere Beispiele, die dem Braess-Paradoxon zumindest sehr nahe kommen:
1. Das Kartell
Typisches Beispiel für das Braess-Paradoxon ist das Kartell: Die marktführenden Händler verzichten auf ihre Freiheit, die Preise selber festzulegen. Diese Einschränkung der eigenen Freiheit macht sie so mächtig, dass jeder einzelne von ihnen einen Vorteil hat.
Die Käufer haben natürlich einen Nachteil. Sie wehren sich mit einem Gesetz, das Preisabsprachen verbietet. Dadurch, dass sie die Freiheit einschränken, haben sie einen Vorteil.
2. Stau im Strassenverkehr
In vielen Städten sind die Strassen jeden Tag verstopft. Tausende von Autofahrern verlieren Zeit. Bereits 1995 verloren die US-Amerikaner durch Staus jährlich über 8 Mrd. Stunden, was volkswirtschaftlich einem Schaden von über 80 Mrd. Dollar entspricht (Kru 1). Die meisten dieser Autofahrer sitzen alleine in ihrem Auto, obwohl vier Leute Platz hätten und viele dieser Fahrer denselben Weg hätten. Viele könnten mit kurzen Absprachen auch zu zweit oder zu dritt in einem Auto fahren. Sie gewinnen aber nichts, wenn sie dies tun.
Würden sich aber alle dieser Fahrer absprechen, so könnten sie die Autolawine halbieren oder sogar dritteln. Dies würde wohl reichen, um das Stauproblem weitgehend zu lösen. Alle hätten einen Vorteil. Eine Einschränkung der persönlichen Freiheit wäre also eine Befreiung für alle.
In diesem Fall ist ein Gesetz wohl nicht sinnvoll. Es ist schwierig, Menschen gesetzlich dazu zu verpflichten, sich abzusprechen. Krugman schlägt aber eine Staugebühr vor. Diese Verteuerung könnte dazu führen, dass sich die Menschen besser absprechen, dass sie sich besser überlegen, ob sie wirklich in dieser Zeit fahren müssen. Die Einnahmen dieser Staugebühren könnten über Steuererleichterungen der Gesamtbevölkerung verteilt werden. Eine andere Möglichkeit wären Staugutscheine, die z. B. am Stadtrand abgegeben werden müssen. Wer seine Gutscheine nicht braucht, kann sie verkaufen.
3. Monopol für Krankenhäuser
Nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage führt Konkurrenz zur Senkung Preise. Dieses Gesetz gilt aber keineswegs immer. Es ist eine mathematische Idealisierung, die viele wichtige Details der realen Welt vernachlässigt. Angenommen, in einem Land wird genau ein Apparat für Gehirntomographie gebraucht und der stehe schon bereit. In einer freien Marktwirtschaft gibt es keinen Grund, weshalb nicht ein anderes Spital ebenfalls so einen Apparat kaufen soll.
Beide Spitäler würden dann weniger verdienen. Beide würden die Preise für Gehirntomographie heraufsetzen. Sie würden zwar die Marge pro Patient herabsetzen. Dennoch müssten die Patienten, bzw. ihre Krankenkassen mehr bezahlen. Denn die Spitäler müssen nun ja beide ihren Apparat amortisieren, obwohl diese nur noch zur Hälfte ausgelastet sind.
Es könnte deshalb in vielen Fällen zu Einsparungen führen, wenn teure Apparate durch Monopole geschützt sind.
4. Flugzeugentführung oder die Macht der Machtlosigkeit
Watzlawick zeigt an einigen schönen Beispielen, dass eine Schwäche oder eine Unfähigkeit die persönliche Sicherheit massiv erhöhen kann (Wat 1). Die Idee wird schon bei einer Abbildung klar, auf der ein Banker am Schalter mit einem süffisanten Lächeln zum Bankräuber sagt: “Tut mir leid – aber unsere Bank ging heute vormittag pleite.”
Watzlawick behandelt dann die Frage, wie man sich am besten vor einer Flugzeugentführung schützen kann. Eine Methode ist, das Cockpit durch eine Sicherheitsschleuse vom Passagierraum abzuriegeln und jede Kommunikation zwischen den Passagieren und den Piloten technisch zu verunmöglichen. Sicherheitshalber wird diese Massnahme den möglichen Entführern kommuniziert: “Bitte nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass die Schwanztüre unserer Boeing 727 während des Fluges nicht mehr geöffnet werden kann.”
Im Zeitalter der Handys ist dies wohl schwieriger zu verwirklichen als 1978, als Watzlawick die Idee aufschrieb. Aber auch in diesem Beispiel gilt: Eine Einschränkung der persönlichen Freiheit kann zu einer Verbesserung der Situation führen. Wenn ich potentielle Erpresser überzeugen kann, dass ich allfällige Forderung beim besten Willen nicht erfüllen kann, werden sie die Erpressung schon gar nicht versuchen.
5. Steuerwettbewerb
Der Kanton Schwyz (einer der drei Gründerkantone der Schweiz) hat beeindruckend gezeigt, wie ein kleines Gebiet sich vom Bettelknaben zu Reichtum mausern kann: Man muss nur die Steuern für die Superreichen und die internationalen Firmen senken. Wenn ein Grossverdiener pauschal Fr. 100’000.- zahlen muss statt einigen Millionen, zieht er gerne in den Kanton Schwyz. Es braucht nicht viele solche Grossverdiener, um die Ausgaben dieses kleinen Gebiets zu decken. Für Roger Köppel, Chefredaktor der Weltwoche, ist dies die Lösung aller Finanzprobleme der Welt. Alle brauchen nur die Steuern zu senken, so wie es der Kanton Schwyz vorgemacht hat.
Intelligentere Leute erkennen natürlich sogleich, dass dies nicht funktionieren kann. Wenn überall tiefe Pauschalsteuern erhoben würden, würde kein Mensch ausgerechnet in den Kanton Schwyz ziehen. Wenn ich in meinem Garten einen Staat ausrufe und nur Fr. 100.- Pauschalsteuer verlange, würde jeder gerne einen Briefkasten in meinem Garten mieten und so die Steuern anderer Länder umgehen. Gäbe es den freien Steuerwettbewerb also, wie Herr Köppel ihn sich wünscht, würden die Steuereinnahmen in kürzester Zeit gegen null streben. Die Freiheit würde letztlich allen schaden.
6. Druck auf Arbeitnehmer und Umwelt
Internationale Firmen produzieren dort, wo die Produktionskosten am tiefsten sind, solange die Qualität vergleichbar ist. Sie verlegen ihre Produktionsstätten also in Länder, in denen die Löhne und die Umweltstandards tief sind. Dies ist eigentlich überhaupt nicht im Interesse der Kunden, die ja auch Arbeitnehmer sind und auf eine gesunde Umwelt angewiesen sind. Für die Kunden wäre es das Beste, wenn alle beim Einkaufen etwas mehr zahlen, dafür aber auch höhere Löhne erhalten und die Natur erhalten.
Für mich als einzelner Kunde ist es aber noch besser, wenn ich als einziger das billige Produkt kaufe und alle anderen die Kosten für den sozialen Abstieg und den Umweltschutz tragen. Eine freie Marktwirtschaft führt deshalb zwangsläufig zu immer tieferen Löhnen und zu immer mehr Umweltzerstörung. Es braucht Gesetze, um sicherzustellen, dass alle sich so verhalten, dass es alle am Besten ist.
Weiterführende Artikel auf dieser Homepage:
Die Geldschöpfung
Das Zinsproblem
Die Schuldenkrise – Leben wir über unsere Verhältnisse?