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Philipp Wehrli, 6. Mai 2006
Solipsismus heisst der Glaube, ich sei das einzige bewusst denkende Lebewesen im Universum. Die meisten Philosophen gehen davon aus, dass Solipsismus zwar keine sinnvolle Annahme sei, dass er aber nicht widerlegt werden könne. Ich zeige hier mit Hilfe von Bayes Erkenntnisformel, dass der Solipsismus eine sehr unwahrscheinliche Möglichkeit ist, wenn wir feststellen, dass wir von vielen sehr ähnlichen Lebewesen umgeben sind.
Ganz grob die Überlegung: Es wäre nicht einzusehen, weshalb wir neben uns so viele ähnliche Menschen sehen, die sich auch ähnlich verhalten, wenn diese nicht ebenso wie wir ein Bewusstsein hätten. In einer solipsistischen Welt würde ich viel eher erwarten, dass ich auf einer einsamen Wolke schwebe.
Ich weiss, dass ich selber bewusst denke, denn dies nehme ich direkt wahr. Vielleicht ist es eine Täuschung, dass ich mich in einem menschlichen Körper sehe. Vielleicht ist die Welt völlig anders als sie mir erscheint. Aber ich weiss mit innerster Gewissheit, dass etwas denkt und fühlt, und nichts spricht dagegen, dieses etwas “Ich” zu nennen.
Ich sehe zwar um mich herum viele Menschen, die sich wohl äusserlich nicht allzu sehr von meiner Erscheinung unterscheiden. Aber bei all diesen Menschen weiss ich nicht, ob sie denken. Die meisten Philosophen sagen, ich könne über das Bewusstsein von anderen nicht die geringste Aussage machen, weil ich ja nicht in andere Menschen hineinsehen könne. Der Solipsismus könne zwar in der Praxis nie konsequent gelebt werden, weil wir ständig mit anderen Menschen komunizieren, aber er sei nicht widerlegbar.
Vom ethischen Standpunkt her spielt die Frage eine Rolle. Denn falls die anderen Menschen überhaupt nichts bewusst wahrnehmen, sind sie nicht mehr als ein Gegenstand. Ich kann sie schonen oder pflegen, wenn ich sie brauche, wie ich ein Fahrrad schone und pflege. Aber es gibt keinen Grund, irgendetwas darüber hinaus für sie zu tun.
Dieses Argument ist allerdings nicht über alle Zweifel erhaben. Ich stelle ja auch fest, dass die anderen Menschen mich besser behandeln, wenn ich fair bin, und mich bekämpfen und behindern, wenn ich sie ausnutze. Selbst wenn die anderen Menschen seelenlose Roboter sind, sollte ich in meinem eigenen Interessen Freundschaften und Beziehungen pflegen. Wenn ich von Feinden erschlagen werde, ist dies unangenehm, egal ob meine Mörder Menschen sind, die sich an mir rächen, oder ob es sich um seelenlose Roboter handelt, die mir aus kalter Berechnung den Garaus machen.
Ich bin überzeugt, dass es zwei schwere Gegenargumente gegen den Solipsismus gibt. Erstens lässt er sich kaum vereinbaren mit meiner Beobachtung, dass es viele Menschen gibt, die sich nur unwesentlich von mir unterscheiden. Zweitens denke ich, das Bewusstsein bringt einen Überlebensvorteil. Menschen müssen sich als soziale Wesen in andere Menschen einfühlen können. Ich bezweifle, dass Zombies oder Roboter ohne Bewusstsein dies ebenso gut schaffen wie bewusst empfindende Menschen. Obwohl das zweite Argument wohl zwingender ist, gehe ich hier nur auf das erste ein.
Es ist möglich, dass ich das einzige bewusst denkende Lebewesen im Universum bin. Es ist aber auch möglich, dass sehr viele oder gar alle Menschen bewusst denken. Bevor ich meine Umgebung und meine Mitmenschen genau ansehe, gibt es für jede dieser Möglichkeiten ein a priori Wahrscheinlichkeit.
P(sol.) = Die a priori Wahrscheinlichkeit, dass ich das einzige bewusst denkende Lebewesen im Universum bin (Solipsismus).
P(VIELE) = Die a priori Wahrscheinlichkeit, dass in unserem Universum sehr viele Lebewesen bewusst denken.
Es handelt sich hier um a priori Wahrscheinlichkeiten, das heisst, ich habe meine Umwelt überhaupt noch nicht angeschaut. Wie soll ich diese a priori Wahrscheinlichkeiten schätzen? -Für den Solipsismus spricht, dass er zumindest auf den ersten Blick einfacher erscheint. Andererseits kann ich die Entstehung von Bewusstsein wohl eher erklären, wenn ich annehme, dass Bewusstsein einen Überlebensvorteil bringt. Verschiedene Leute werden bei dieser Schätzung auf verschiedene Resultate kommen. Entscheidend ist, dass beide Varianten möglich sind, also beide Wahrscheinlichkeiten weder null noch eins sind. Die folgende Überlegung zeigt, dass P(sol.) sehr viel unwahrscheinlicher wird, dadurch, dass wir feststellen, dass wir mit sehr vielen ähnlichen Menschen zusammen leben.
Überlegen wir zunächst, wie eine solipsistische Welt aussehen könnte. Ich sehe entweder:
viele+ICH, eine Welt, in der neben mir viele sehr ähnliche Geschöpfe leben, von denen ich nicht weiss, ob sie ein Bewusstsein haben.
oder:
ICH, eine Welt, in der nur ich lebe, aber keine Geschöpfe, die eine vergleichbare Stufe einnehmen.
Dann ist:
P(viele+ICH | sol.) = bedingte Wahrscheinlichkeit, dass ich neben mir viele ähnliche Geschöpfe sehe, obwohl ich in einer solipsistischen Welt lebe.
Der entscheidende Punkt ist:
P(viele+ICH | sol.) << 1
Denn es sind beliebig viele Möglichkeiten denkbar, wie eine solipsistische Welt aussehen könnte, z. B.: “Ich als mächtiger Geist schwebe über dem Chaos.” Oder: “Ich als Gott schaue auf eine Welt herab, in der es von bewusstlosen Geschöpfen wimmelt.” Oder: “Ich sitze alleine auf einem kleinen Meteoriten und fliege durch den Weltraum.”
Es gibt besteht eine Möglichkeit, dass ich der einzige bewusst denkende von vielen seelenlosen Menschen bin, die aber alle mehr oder weniger gleich aussehen wie ich und sich auch ähnlich verhalten. Aber diese Möglichkeit ist a priori nur eine von unendlich vielen ebenso wahrscheinlichen. Das heisst: Wenn ich nur weiss, dass ich in einer solipsistischen Welt lebe, und sonst nichts, dann erwarte ich nie und nimmer, dass es neben mir so viele praktisch gleiche Geschöpfe gibt, die aber kein Bewusstsein haben.
Weiter sei:
P(viele+ICH | VIELE) = bedingte Wahrscheinlichkeit, dass ich neben mir viele ähnliche Geschöpfe sehe, wenn neben mir viele bewusst denkende Geschöpfe leben.
In guter Näherung gilt wohl:
P(viele+ICH | VIELE) = 1
Dies in Bayes Erkenntnisformel eingesetzt ergibt:
Wegen
P(viele+ICH | sol.) << 1
ergibt sich nach Bayes Formel
P(sol. | viele+ICH) << 1,
ausser wenn Solipsismus aufgrund der a priori Wahrscheinlichkeit schon fast als Tatsache betrachtet werden muss.
Oder in Deutsch: Wenn ich sehe, dass neben mir viele Menschen leben, die sich nicht völlig anders verhalten als ich, dann sollte ich annehmen, dass viele dieser Menschen ebenso wie ich ein Bewusstsein haben.
Ein überfüllter Zug?
Das Beispiel vom überfüllten Zug gibt der obigen Überlegung noch mehr Gewicht. Angenommen, es gibt verschiedene Planeten, auf denen bewusst denkende Lebewesen entstehen können. Angenommen, einige davon seien solipsistisch, also auf ihnen lebt nur ein bewusst denkendes Lebewesen, aber eine ganze Reihe von Maschinen. Auf den übrigen sind vielleicht einige Milliarden bewusst denkender Wesen. Auch wenn es viel mehr solipsistische Planeten gibt, würden doch viel mehr nicht solipsistische wahrgenommen. Auch aus diesem Grund sollten wir eher erwarten, dass wir uns auf einem nicht solipsistischen Planeten befinden.
Weiterführende Artikel auf dieser Homepage:
Bayes Erkenntnisformel
Der kartesische Dämon
Haben Tiere ein Bewusstsein?
Weiterführende Bücher:
von Randow, Gero, ‘Das Ziegenproblem – Denken in Wahrscheinlichkeiten’, (1992), Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Sehr unterhaltsames allgemeinverständliches Buch über alltägliche Fehlüberlegungen aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Nebenbei werden die Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Bayes Erkenntnisformel sehr anschaulich erklärt.
Wickmann, Dieter, ‘Bayes-Statistik – Einsicht gewinnen und Entscheiden bei Unsicherheit’, (1990), Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, Mannheim
Ein Mathematiklehrbuch zur Bayes Statistik für Profis.
Philip Wehrli, ‚Das Universum, das Ich und der liebe Gott‘, (2017), Nibe Verlag,
In diesem Buch präsentiere ich einen Gesamtüberblick über mein Weltbild: Wie ist das Universum entstanden? Wie ist das Leben auf der Erde entstanden? Was ist Bewusstsein und woher kommt es? Braucht es dazu einen Gott?
Viele Artikel dieses Blogs werden in diesem Buch in einen einheitlichen Rahmen gebracht, so dass sich ein (ziemlich) vollständiges Weltbild ergibt.
Leserunde bei Lovelybooks zum Buch ‚Das Universum, das Ich und der liebe Gott‘, von Philipp Wehrli (abgeschlossen)
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