Der Zeitpfeil

Der Zeitpfeil

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Philipp Wehrli, 2. Januar 2002

Was uns im Alltag selbstverständlich erscheint, ist aus Sicht der Physik überhaupt nicht klar. Weshalb gibt es einen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft? Praktisch alle Naturgesetze sind zeitsymmetrisch. Weshalb sieht ein Film trotzdem völlig anders aus, wenn man ihn rückwärts schaut? Wer sich fragt, was Zeit ist, kommt um das Rätsel des Zeitpfeils nicht herum.

Fast alle elementaren Naturgesetze sind zeitsymmetrisch. Ein Stein, der in die Luft geworfen wird, hat beim Aufwärtsfliegen genau die gleiche Flugbahn wie beim Abwärtsfliegen. Wenn Atome zusammenstossen und voneinander abprallen, dann könnte dieser Vorgang ebensogut rückwärts ablaufen. Wir müssten dazu nur die Bewegungen sämtlicher Teilchen umkehren. Dieses Umkehren der Bewegungen wäre zwar sehr schwierig. Wenn wir es aber zu einem Zeitpunkt schaffen würden, gäbe es keinen Grund mehr, weshalb nicht der ganze Vorgang rückwärts ablaufen sollte.

Im Alltag kennen wir natürlich Vorgänge, die niemals rückwärts ablaufen. Eine Tasse mit heissem Tee in einem kalten Zimmer kühlt immer ab. Wir könnten sagen: Am Anfang ist die Welt in Ordnung. Die heissen Teilchen sind alle in der Tasse, und alle kalten sind ausserhalb. Durch die Temperatur bewegen sich die Teilchen. Die heissen Teilchen sind energiereicher, also schneller, die kalten sind langsam. Wenn sie sich bewegen, stossen sie sich. Bei diesen Stössen geben die heissen Teilchen den kalten jedesmal ein bisschen Energie, bis schliesslich schnelle und langsame Teilchen so im ganzen Zimmer verteilt sind, dass sie nicht mehr getrennt werden können. Am Schluss haben wir Unordnung.

Wir können einen ‘Zeitpfeil’ so definieren: Die Vergangenheit ist da, wo kalte und warme Teilchen getrennt sind. Die Zukunft ist da, wo alle Teilchen vermischt sind. Dies gilt nicht nur für Tee. Wenn etwas in Ordnung ist und sich ohne bestimmte Regel bewegt, dann ist es nach einer Zeit nicht mehr geordnet. Das sieht jeder, der eine Zeitlang sein Pult nicht aufräumt. Diese Feststellung ist so wichtig, dass sie einen Namen erhalten hat: Der 2. Hauptsatz der Thermodynamik. Der Satz sagt: Die Unordnung nimmt immer zu. Statt ‘Unordnung’ sagen die Physiker ‘Entropie’. Die Entropie nimmt immer zu.

Wenn ich an einem Ort Ordnung schaffe, wird ein anderer umso ungeordneter. Ein Lebewesen z. B. ist sehr geordnet. Um diese Ordnung aufzubauen und aufrecht zu erhalten, braucht es die Hitze der Sonne und den kalten Hintergrund des Weltalls. Nur ein riesiger heisser Backofen würde nicht reichen. Die Lebewesen benötigen von der Sonne nicht die Energie, sondern die Ordnung. Nur weil die Sonne im Weltall ein Fleck von extremer Ordnung ist, können die Lebewesen ihre Ordnung aufrechterhalten.

Durch die Zunahme der Unordnung mit der Zeit, wird eine Richtung in der Zeit bestimmt. Am einen Ende der Zeit ist alles geordnet, am anderen alles in Unordnung.

Aber woher kam die Ordnung? Wäre die Temperatur von Anfang an überall gleich, dann würden die Teetassen nicht mehr abkühlen. Gäbe es keine Sonnen im kalten Raum, so könnte auch kein Leben entstehen.

Die Antwort ist: Am Anfang war gar keine Ordnung. Am Anfang war die Welt so chaotisch, wie sie nur sein kann. Dann aber dehnte sich der Raum aus. Und es war, wie wenn neben das maximal unordentliche Pult ein zweites leeres gestellt würde und ein drittes und noch einige Tausend weitere. Obwohl niemand aufgeräumt hat, gibt es jetzt eine Ordnung. Sämtliches Material befindet sich auf einem Pult, auf allen anderen brauchen Sie gar nicht zu suchen. Erst nach und nach wird sich die Unordnung auf die anderen Pulte ausbreiten. Wenn Sie wissen wollen, wie viel Zeit vergangen ist, brauchen Sie nur zu schauen, weit sich die Unordnung ausgebreitet hat. Sie haben also einen Zeitpfeil.

Genau dies ist im Universum geschehen. Dort, wo es weniger Materie hatte, dehnte sich der Raum aus. Dort, wo es viel Materie hatte, blieb er gekrümmt. So kam es, dass plötzlich Bereiche mit viel Materie neben fast leeren Bereichen lagen. Seither verwandelt sich die Materie durch verschiedene Vorgänge langsam in Licht. Dieses Licht breitet sich in die fast leeren Bereiche aus, bis in vielen Milliarden Jahren das ganze Universum gleich aussieht. Dies ist der Strom von Energie, den wir von unserer Sonne erleben und den wir zum Leben brauchen. Dieser Strom gibt der Zeit eine Richtung.

Damit wird der Zeitpfeil aber nur scheinbar erklärt. Denn wenn sich das Universum ausdehnt und wieder zusammenzieht, herrscht am Ende des Universums die gleiche Situation wie am Anfang. Weshalb können wir nicht am Ende beginnen, die Naturgesetze rückwärts anwenden und zurückrechnen, wie das Universum heute aussieht? Wir könnten die ganze Überlegung vom zusätzlichen Raum, in den das Licht entweichen kann, ebensogut vom Ende des Universums aus anstellen und schliessen, dass die Zeit in die andere Richtung fliessen muss.

Roger Penrose schliesst daraus, dass die Quantenkosmologie, die die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie verbinden sollte, zeitlich asymmetrisch sein muss. Er vermutet, dass der Kollaps der Wellenfunktion der Quantentheorie dabei eine Rolle spielt.

Wir kennen aber heute schon einen elementaren Vorgang in der Natur, der ohne Zunahme der Entropie einen Zeitpfeil vorgibt. Dieser Vorgang ist die Umwandlung von Antikaonen in Kaonen.

Weiterführende Artikel auf dieser Homepage:

Kaonenzerfall
Urknall
Überlichtgeschwindigkeit

Weiterführende Bücher

Philip Wehrli, ‘Das Universum, das Ich und der liebe Gott’, (2017), Nibe Verlag,

Das Universum, das Ich und der liebe Gott

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