Was ist real?

Was ist real?

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Philipp Wehrli, 3. Januar 2013, überarbeitet am 30. April 2013

Naturwissenschafter und Philosophen können in sehr energische Diskussionen geraten über die Frage, ob z. B. der Raum, die Zeit oder das elektrische Feld real seien. Viele von ihnen halten es für völlig klar, was Naturwissenschafter und Philosophen als ‘real’ bezeichnen sollen. Die Analyse dieser Frage wird allerdings meist sehr salopp abgehandelt. Ich möchte hier klären, welche Konsequenzen die verschiedenen Gesichtspunkte haben.

1. Ein einfaches Modell meiner Wahrnehmung

Wir nehmen die Welt an sich nie direkt wahr, sondern nur über unsere Sinnesorgane. Wir leben in einer Welt der Erscheinungen. Aufgrund unserer Erfahrung mit den Erscheinungen schliessen wir auf die Welt an sich. Wir bilden also eine Theorie, wie die Welt an sich sei. Dies scheint den Schluss aufzudrängen, wir könnten keinerlei begründete Aussagen über die Welt an sich machen.

Der Ablauf einer Beobachtung, so, wie ihn sich wohl die meisten Menschen etwa vorstellen, ist in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1. Ablauf einer Beobachtung. Dinge der Realität wirken auf mich ein. Dies gibt mir den Eindruck einer Wahrnehmung, die ich verarbeite und zu einer Theorie zusammenfüge. So erhalte ich nach und nach ein immer besseres Bild von der Realität. Im allgemeinen gehen wir davon aus, dass unser Bild von der Realität einigermassen mit der Realität übereinstimmt.

Was ist real?

i) Das Gedankenspiel von Déscartes Dämon zeigt, dass wir nicht einmal wissen, ob uns nicht alle unsere Wahrnehmungen von einem Dämon vorgespiegelt werden. Vielleicht besteht die Realität ausschliesslich aus meinem Gehirn, das sich eine Welt einbildet. Dann wären in Abbildung 1 nicht drei Bereiche darzustellen, sondern nur ein Bereich, der auf sich selber blickt.

 

ii) Alles, was wir von der obigen Darstellung wirklich wahrnehmen, ist das Abbild in unserem Gehirn. Selbst das in Abbildung 1 gezeigte Gehirn ist vielleicht nur eine Täuschung. Vielleicht ist da nur eine immaterielle Seele, die mit einem Gehirn nicht die geringste Ähnlichkeit hat.

iii) Andererseits könnte die Realität auch viel grösser sein, als hier dargestellt. Vielleicht sind grosse Teile der Realität für uns überhaupt nicht wahrnehmbar. Es wäre sogar erstaunlich, wenn wir die gesamte Realität wahrnehmen können.

2. Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Die meisten Naturwissenschafter nennen Realität das, was der wissenschaftlichen Betrachtung und Erforschung zugänglich ist. Dinge, die nicht messbar sind, sollen keine Basis für wissenschaftliche Theoriebildung sein. Kurz: “real ist, was ich sehe.” Auch die meisten Skeptiker denken, damit seien sie auf der sicheren Seite. Man beachte, dass hier die Idee von Déscartes Dämon schlicht übergangen wird.

Man könnte nun denken, Déscartes Dämon oder der Film Die Matrix seien ja auch nur unterhaltsame Spielereien, denen wir keine weitere Beachtung schenken müssen. Das mag ja im Alltag für gesunde, wache und nüchterne Menschen so sein. Wenn wir darauf aber eine Erkenntnistheorie aufbauen wollen, ist es doch eine sehr schwache Basis. Wie schwach diese Basis ist, wie nahe uns Täuschungen auch im Alltag sind und wie vollkommen wir getäuscht werden können, will ich an einer Reihe von Beispielen zeigen, die man alle im Buch von Oliver Sacks, ‘Drachen, Doppelgänger und Dämonen – über Menschen mit Halluzinationen’ findet (Sac 4):

1. Beispiel:
Auch gesunden Menschen kann es passieren, dass sie beim Einschlafen oder Aufwachen z. B. ein Gespenst auf der Bettkante sitzen sehen. Gar nicht so selten sind Albdrücke, d. h. Wesen die beim Aufwachen auf der Brust sitzen und den Menschen lähmen. Diese Erscheinung kommt daher, dass die Gehirnareale nicht alle gleichzeitig einschlafen bzw. aufwachen. So kann es passieren, dass z. B. das Bewegungsareal noch schläft und die Atmung verlangsamt ist, während der Aufwachende seinen Zustand bereits bewusst wahrnimmt. Der Aufwachende fühlt sich gelähmt und spürt Atemnot. Die Lähmung und Einengung wird dann auf ein Wesen zurückgeführt, dass die Atmung abdrückt. Und im Halb-Wachtraum wird das Wesen zu allem Überfluss noch bewusst beobachtbar. In Kulturen, in denen Sagen über grausame Wesen überliefert sind, können diese Erscheinungen den abergläubischen Betroffenen derart erschrecken, dass er vor Schreck stirbt.

2. Beispiel:
Als Auslöser von Halluzinationen kommen eine ganze Reihe völlig verschiedener Situationen in Frage, wie etwa Drogen, eine Gehirnblutung, ein Tumor, Übermüdung, Vergiftungen, Narkolepsie, Migräne, Epilepsie, Sauerstoffmangel, Dehydration, Schizophrenie, Nebenwirkungen bei Medikamenten, das Absetzen von Medikamenten oder Drogen, spirituelle oder religiöse Rituale über längere Zeit, Einsamkeit oder Mangel an Sinnesreizen. Was der Betroffene unter diesen Umständen erlebt, sprengt die Vorstellungskraft des nicht Betroffenen. Alles, was Sie in Gruselfilmen schon gesehen haben, scheint sich hier tatsächlich abzuspielen. Z. B.:

  • Eine Stimme kommandiert Sie herum.
  • Musik spielt wunderschön.
  • Beliebige Farbeffekte und Muster tauchen auf.
  • Jemand atmet direkt neben Ihnen.
  • Riesige Spinnen, Mäuse, Würmer oder anderes Ungeziefer krabbeln durchs Zimmer.
  • Die Figuren eines Films oder eines Gemäldes klettern plötzlich aus dem Fernseher oder aus dem Bild.
  • Sie schrumpfen plötzlich zum Zwerg oder Sie wachsen zum Riese.
  • Die ganze Welt wirkt plötzlich fremd. Sie erkennen Ihre eigene Mutter nicht mehr.
  • Alles wirkt plötzlich bekannt und vertraut, obwohl es neu ist. Der Betroffene glaubt, alles schon einmal erlebt zu haben.
  • Der freundliche Verkäufer verwandelt sich unversehens in ein Gruselmonster und Würmer kriechen aus seinem Gesicht.
  • Im Türrahmen hängen vermodernde Leichen.
  • Sie schweben durchs Zimmer.
  • Ihre Beine oder die eines Anderen sind plötzlich verkürzt oder ungleich lang.
  • Sie sehen plötzlich alles ganz hell und klar, erleben ein überirdisches Glücksgefühl und wissen, dass Gott zu Ihnen spricht.
  • Sie lesen ein Buch und lesen da Dinge, an die Sie sich später erinnern, aber nie mehr finden können.
  • Ein Alltagsgegenstand vervielfältigt sich und steht in mehreren Kopien vor Ihnen.

3. Beispiel:
Viele Betroffene sind sich völlig bewusst, dass sie es mit Täuschungen zu tun haben. Die Trugbilder können äusserst real wirken. Stellen Sie sich vor, Freunde kommen Sie besuchen. Sie reden mit ihnen, gehen in die Küche, um Tee zu machen. Und als Sie zurück kommen, sind die Freunde verschwunden und Sie merken, dass die auch nie da waren.

4. Beispiel:
Auch Einbildungen, die physikalisch und logisch unmöglich sind, können als absolut real erlebt werden. Und zwar auch von Skeptikern, die ihr Leben völlig im Griff haben und ansonsten gesund, intelligent und selbstkritisch sind. Z. B. sehen und erleben sich manche Menschen als zwei Personen mit zwei Körpern. Der Naturforscher Carl von Linné etwa beobachtete oft sein “anderes Selbst” parallel zu sich im Garten, wo das Phantom alle seine Bewegungen nachahmte. Als er einmal in sein Büro gehen wollte, hielt er an der Tür inne und sagte: “Oh, ich bin ja schon da.”
Einen noch extremeren Fall schildert Peter Brugger von der Universität Zürich: Ein Patient mit Temporallappenepilepsie geriet in einen handfesten Streit mit seinem Alter Ego. Der eine wollte im Bett bleiben, der andere wurde wütend “auf diesen Burschen, von dem ich wusste, dass er ich selbst war, der nicht aufstehen wollte und dadurch riskierte, zu spät zur Arbeit zu kommen.” Er schrie, rüttelte den “anderen” sprang wütend auf dem Faulenzer herum. Mehrfach wechselte seine Körperwahrnehmung von dem, der aufrecht stand zu dem, der lag und wieder zurück. Schliesslich hatte der Patient nur noch den Wunsch, wieder eine Person zu werden und sprang aus dem Fenster.
Die Spaltung der Persönlichkeit kann so weit gehen, dass ein Patient behauptet, er befinde sich gleichzeitig in einem Operationssaal in Montreal, während er auch durch einen Wald reite.

5. Beispiel:
Ähnlich unvorstellbar ist das sogenannte Anton-Syndrom, bei dem ein Patient zwar völlig blind ist, dies aber selber nicht merkt. Oliver Sacks beschreibt das so:
“Solche Patienten können in jeder anderen Hinsicht zurechnungsfähig und unbeeinträchtigt sein, aber trotzdem behaupten, mit ihrem Sehvermögen sei alles in Ordnung. Sie verhalten sich tatsächlich, als könnten sie sehen, und betreten furchtlos unbekannte Räume. Wenn sie dann gegen ein Möbelstück laufen, behaupten sie, es sei bewegt worden, der Raum sei schlecht beleuchtet oder Ähnliches. Fordert man einen Patienten mit dem Anton-Syndrom auf, einen Fremden im Zimmer zu beschreiben, kommt er der Aufforderung im Brustton der Überzeugung und ohne zu stocken nach, obwohl alles vollkommen falsch ist, was er erzählt. Kein Argument, kein Beweis, kein Appell an die Vernunft oder den gesunden Menschenverstand vermag das Geringste auszurichten.” (Sac 4).

Angesichts dieser Täuschungsmöglichkeiten ist es nicht angemessen zu sagen: “Ich glaube, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.” Die heutige Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie werden dieser Situation nicht gerecht. Diese behaupten nämlich schon ein einzelnes Experiment oder eine einzelne Beobachtung könne eine Theorie widerlegen. Dies ist falsch. Eine einzelne Beobachtung kann nie eine Theorie widerlegen. Wir müssen immer auch in Erwägung ziehen, dass die Beobachtung falsch ist.

Dies wird in der Wissenschaft auch so gemacht. Die Feynman-Gell-Mann Theorie des Betazerfalls z. B. widersprach den Beobachtungen der Experimentalphysiker. Valentine Telegdi, der die Experimente gemacht hatte, ein hervorragender und sehr sorgfältiger Forscher, ärgerte sich darüber, dass die Theoretiker seine Experimente übergingen. Aber Feynman und Gell-Mann sahen, dass ihre Theorie elegant war und das Gesamtbild sehr gut beschrieb – bis auf das eine Experiment. Sie nahmen also an, dass das Experiment einen Fehler enthielt. Und weil sie wussten, dass Telegdi hervorragender Physiker war und besser als irgendein anderer den Fehler finden konnte, warteten sie erst einmal ab. Tatsächlich meldete sich Telegdi schon nach zwei Tagen und erklärte, er habe seine Ansicht korrigiert (Fey 3).

3. Weshalb können wir kommunizieren?

Die obigen Beschreibungen scheinen nahezulegen, wir könnten über die Realität überhaupt nichts aussagen. Ich denke, das wäre zu pessimistisch. Immerhin können wir feststellen, dass wir lebensfähig sind. Wenn wir tatsächlich als Blinde durch eine phantasierte Welt wandeln würden, wären wir wohl längst gestorben. Die Annahme ist begründet, dass unsere Ansichten über die Realität nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Wenn unsere Vorstellungen von der Realität reine Erfindungen wären, würden sie wohl auch ganz anders aussehen. Denn dann gäbe es keinen Grund, weshalb die anderen Menschen mir so ähnlich sein sollten. Wenn ich mir lediglich ein Phantasiebild schaffe, wäre ich dann nicht viel eher ein Gott, ein Kaiser oder ein Guru mit übermenschlichen Fähigkeiten, als ein einfacher Durchschnittsmensch (siehe dazu auch meinen Artikel Solipsismus)?

Wir können zwar nichts mit Sicherheit wissen. Aber allem Anschein nach, schätzen wir die Realität doch gar nicht so schlecht ein. Zwar müssen wir immer damit rechnen, in einzelnen Beobachtungen getäuscht zu werden. Wenn wir aber ein stimmiges und einfaches Gesamtbild aufbauen können, dann können wir davon ausgehen, dass wir damit die Welt an sich getroffen haben (siehe dazu auch den Artikel Das Induktionsprinzip).

Z. B. ist bemerkenswert, dass wir kommunizieren können. Meine Kinder können eine Ente von einem Hasen unterscheiden. Das Erstaunliche ist: Wenn sie etwas ‘Ente’ nennen, dann sehe ich da auch immer eine Ente! Wenn sie umgekehrt einen Hasen sehen, sehe ich auch immer einen Hasen. Wie kann das sein, wenn weder meine Kinder noch ich etwas über die Welt an sich wissen? Die Ansicht, ob da eine Ente oder ein Hase ist, würde ja erst bei der Wahrnehmung entstehen. Individuell in jedem einzelnen von uns. Weshalb nehmen wir alle das Gleiche wahr? Weshalb können wir kommunizieren?

Diese Frage ist keineswegs trivial. Denn wenn Philosophen oder Physiker behaupten, Raum und Zeit seien nicht real, dann werden sie kaum erklären können, wie wir kommunizieren können. In der Welt an sich wäre ein Hase dann ein Häuflein Atome, ohne räumliche Anordnung. Ebenso wäre auch eine Ente nur ein Häuflein Atome! Zwischen den zwei Häuflein gäbe es in der Welt an sich überhaupt keinen Unterschied. Erst bei meiner Wahrnehmung ordne ich das Licht, das von diesen Atomen kommt zu einem Hasen oder einer Ente. Ich bin es, der die Atome zum Hasen oder zur Ente macht!

Abbildung 2. Manche Menschen sehen in diesem Bild eine Ente, andere einen Hasen. Wenn in der Realität nicht festgelegt ist, ob ich die Erscheinungen zu einem Hasen oder zu einer Ente zusammen fügen soll, weshalb sehe ich in der Welt nicht andauernd solche Bilder? Weshalb sehe ich eine Ente immer als Ente und nicht jeden Tag anders? Weshalb sehen die anderen Menschen die Welt so ähnlich, dass wir kommunizieren können? Wenn wir nicht eine weitgehend richtige Vorstellung von der Welt an sich hätten, wäre dies kaum zu erklären.Die Realität ist real

Ein möglicher Ausweg wäre natürlich, zu sagen, Raum und Zeit seien zwar nicht real. Aber dass wir kommunizieren können, sei auch nur eine Einbildung. In Wirklichkeit bin ich da ganz alleine. Ich bilde mir alle anderen Menschen und Dinge nur ein. Diese Ansicht nennt man bekanntlich Solipsismus. Weshalb diese Ansicht kaum haltbar ist, erkläre ich hier: Solipsismus.

4. Es ist schwieriger als man denkt!

Die Tatsache, dass wir kommunizieren können, stimmt zuversichtlich, dass wir die Realität einigermassen korrekt erfassen. Freuen wir uns nicht zu früh. Es ist schwieriger als man denkt!

Als der junge Heisenberg 1926 zu Einstein sagte, eine Theorie solle nur beobachtbare Dinge enthalten, entgegnete dieser aber zu Heisenbergs Überraschung: „Erst die Theorie entscheidet darüber. was man beobachten kann.“ (Hei 1) Was meinte Einstein damit?

Wenn ich einen Tennisball vorbei fliegen sehe, ist keineswegs der Ball in mir drin. Ich nehme allenfalls die Spur eines realen Balles wahr, aber nicht den Ball selbst. Ich sehe die Photonen, die von ihm reflektiert werden. Was habe ich nun beobachtet? Die Photonen, die Atome des Tennisballs, den ganzen Ball oder die Abstände im Raum? Oder gar die Zeit, die ja die Bewegung erst möglich macht?

Der ganze oben beschriebene Ablauf der Wahrnehmung ist meine Interpretation. Ich habe irgendwo gelesen, da seien elektrische Ströme in meinem Gehirn, die von diesen Photonen ausgelöst werden, die vom Ball reflektiert würden. Nach dieser Interpretation ist es die Spur der Spur, die ich tatsächlich in mir fühle.

Aber all das ist Theorie, mitsamt den verwendeten Begriffe: ‘Atome’, ‘Photonen’, ‘Raum’, ‘Zeit’. Ich brauche diese Begriffe, um den Ablauf zu beschreiben. Wenn ich die Begriffe ‘Raum’ oder ‘Zeit’ weglasse, sind die übrigen Begriffe überhaupt nicht mehr definiert. Dann würde ich ein völlig anderes Weltbild brauchen.

Es sind möglicherweise Weltbilder denkbar, die ohne die Begriffe ‘Raum’ und ‘Zeit’ auskommen. Man könnte das, was ich Raum nenne, z. B. als ein Netzwerk von Teilchen aufbauen. Was ich ‘Abstand’ nenne, könnte dann auf eine Beziehung zwischen Teilchen zurück geführt werden. Umgekehrt könnten wir auch auf den Begriff ‘Teilchen’ verzichten, indem wir Teilchen als Wirbel oder als Verknotung des Raums beschreiben.

Die Welt an sich kann auf verschiedene Weise abgebildet werden, so wie wir auch eine Mozart Symphonie auf verschiedene Weise abbilden können. Eine Symphonie können wir auf Notenblätter niederschreiben, wir können sie digital auf CD brennen, wir können sie in Sinus- und Cosinus-Wellen zerlegen, wir können sie als elektromagnetische Welle ins Weltall hinaus senden u. s. w. Bei all diesen Abbildern ist (praktisch) die gesamte Information der Mozart Symphonie enthalten. Und es gibt unendlich viele weitere äquivalente Möglichkeiten.

Es ist aber unsinnig, z. B. zu sagen, die Noten seien die Symphonie, die Notenlinien und die Angabe der Tonart aber nicht. Die Noten sind unverzichtbarer Bestandteil einer bestimmten Beschreibung der Symphonie. Ihre Bedeutung wird aber erst klar, wenn auch die Notenlinien gezeichnet sind und die Tonart angegeben ist. Diese Bestandteile sind aber nur in dieser Beschreibung notwendig. Die elektromagnetische Welle enthält keine Noten und kommt dem, was Mozart ausdrücken wollte, möglicherweise sogar näher als die Notenblätter, die er selber schrieb. Es geht mit oder ohne Noten.

Zu sagen, nur die Teilchen seien real oder nur der Raum, heisst, das Weltbild mit der Realität zu verwechseln. Viele Naturwissenschafter fordern, dass wir nur das als real ansehen, was wir beobachten können. Diese Forderung ist aber nicht umsetzbar. Denn die eigentliche Frage ist doch: Was beobachten wir eigentlich?

Ich weiss nicht, ob Einstein dies meinte, als er sagte: „Erst die Theorie entscheidet darüber. was man beobachten kann.“ Aber zumindest Mathematiker sind sich dieses Phänomens sehr bewusst. Durchschnittsmenschen verwechseln Mathematik meist mit Rechnen. Mathematik besteht aber viel eher im Sammeln, Untersuchen und Ordnen von Mustern. Simon Singh beschreibt dies allgemeinverständlich in ‘Fermats letzter Satz’ (Sin 2).

Singh vergleicht zwei verschiedene Gebiete der Mathematik (die elliptischen Gleichungen und die Modulformen) mit Inseln, deren Bewohner verschiedene Sprachen sprechen. Eine typische Frage der Mathematik ist dann: Gibt es zu jeder Aussage der einen Sprache eine exakte Übersetzung in die andere und umgekehrt? – Das ist die Art der Fragen, mit denen sich die grossen Mathematiker befassen. Mathematiker rechnen nicht Dinge aus. Sie vergleichen ‘Muster’ und verschiedene ‘Sprachen’. Wenn sie nämlich so einen Übersetzungscode finden, so ist dies von herausragender Bedeutung. Denn auf der einen Insel grübeln die Einwohner vielleicht über eine Reihe tiefgründiger und kniffliger Rätsel, während diese Rätsel in der Sprache der anderen Insel längst gelöst und anschaulich und verständlich sind. Mit dem geeigneten Übersetzungscode könnte man die Lösungen dieser Rätsel sehr leicht in die andere Sprache übersetzen. Wir hätten schlagartig einen unglaublichen Erkenntnisgewinn!

Was Singh etwa in diesem Sinne beschreibt, ist ein für die Mathematik typischer Vorgang. Es ist in dieser Situation offensichtlich unsinnig, darüber zu streiten, ob die Begriffe der einen oder der anderen Sprache die richtigen seien. Die zwei Sprachen sind äquivalent. Dies ist die Situation, die wir in den Naturwissenschaften haben. Wir können die Welt an sich mit verschiedenen Weltbildern beschreiben. Es ist unsinnig zu sagen, einige Begriffe eines Weltbildes seien real. Diese Begriffe werden in einem anderen Weltbild vielleicht überhaupt nicht oder völlig anders gebraucht!

‘Raum’ und ‘Zeit’, ‘Teilchen’, ‘elektrisches Feld’ oder ‘Wellenfunktion’ sind Begriffe. Sie können nicht real sein. In einer bestimmten Sprache brauchen wir alle diese Begriffe, um zu einem stimmigen Gesamtbild zu kommen. Vielleicht stellt sich irgendwann heraus, dass wir auf einen bestimmten Begriff verzichten können. Dann werden wir diesen Begriff in Zukunft weglassen, so wie Einstein vorgeschlagen hat, den Begriff ‘Äther’ wegzulassen.

5. Indizien für Realität

Wenn ich z. B. einen Geist vor mir sehe, wie es in den dort beschriebenen Fällen vorkommt, woher weiss ich dann, ob dies eine Täuschung ist? Dies ist keineswegs nur eine philosophische Frage ohne praktische Bedeutung. Denn wenn der Geist real ist, tue ich gut daran, ihn nicht zu verärgern. Wenn er aber vorgetäuscht ist, ist dies auch bemerkenswert. Denn wie kann ich erkennen, dass ich einen realen Tennisball vor mir habe, wenn mir mein Gehirn sogar einen Geist vorgaukeln kann? Jedem von uns kann passieren, dass er absolut sicher ist, er hätten einen Tennisball vor sich, aber es ist reine Gehirntäuschung. Woher also weiss ich, ob ich einen echten Tennisball vor mir habe?

Es gibt verschiedene Indizien, die meine Meinung begründen können:

i) Stimmigkeit der Gesamtsituation: Wenn ich den Tennisball sehe, während ich in langen rosa Unterhosen gegen Goethe einen Tennismatch spiele, ist der Ball vermutlich eine Täuschung. Wenn ich ihn auf dem Heimweg neben einem Spielplatz am Strassenrand erblicke, ist er wohl real.

ii) Keine weiteren Gründe, eine Täuschung anzunehmen: Wenn ich gerade von einer Drogenparty komme, traue ich der Sache weniger. Wenn ich den Ball bei gutem Licht klar gesehen und ihn genau anschaue, ohne unter Stress zu stehen, täusche ich mich wohl kaum.

iii) Mein bisheriger Erfolg mit meinem Modell der Wahrnehmung: Ich bin 45 Jahre alt und es hat nie Problemen geführt, wenn ich die Dinge, die ich sah, für real hielt. Ich kenne Tennisbälle seit ich klein bin. Immer haben sie sich zuverlässig an gewisse Regeln gehalten. Sie bewegen sich stetig, haben eine gewisse Härte, setzen sich nicht von sich aus in Bewegung … Deshalb glaube ich, dass dies auch diesmal so sein wird.

iv) Häufigkeit der Beobachtung: Wenn ich den Ball nur einmal flüchtig sehe kann ich mich eher täuschen, als wenn ich ihn während zwei Wochen jeden Tag dort liegen sehe. Wenn andere unbefangene Leute meine Beobachtung bestätigen, fühle ich mich noch sicherer.

v) Kein Verstoss gegen Naturgesetze, wie ich sie bisher kennengelernt habe.

Im Allgemeinen sind natürlich nicht alle diese Bedingungen gleichermassen erfüllt. Aber je besser sie erfüllt sind, desto sicherer kann ich sein, dass mein Vertrauen gerechtfertigt ist. Wenn eine Beobachtung scheinbar gegen die Naturgesetze verstösst, kann das daran liegen, dass ich bisher von falschen Naturgesetzen ausgegangen bin. Dann müssen aber die anderen Bedingungen umso besser erfüllt sein. Wenn also die obigen Bedingungen mehrheitlich gut erfüllt sind, kann ich annehmen, dass da tatsächlich ein Tennisball liegt.

Bemerkenswert ist: In allen fünf Bedingungen spielt die Gesamtsituation eine Rolle. Immer kommt es auf das Gesamtbild an. Ein einzelner Faktor kann immer auf Täuschung beruhen. Meine Sicherheit beruht darauf, dass alles zusammenpasst. Alle meine Sinnesreize und Erinnerungen lassen sich mit einer einfachen Theorie unter einen Hut bringen. Und in dieser Theorie ist der Tennisball nur schwer ersetzbar. Ohne das Element Tennisball müsste ich meine Wahrnehmung mit viel komplizierteren Annahmen erklären. Z. B. dadurch, dass ein Ausserirdischer in mein Gehirn einen Chip eingepflanzt hat, der mir einen Tennisball vorgaukelt. Solche komplizierten Konstrukte sollte ich nach Möglichkeit in meinem Weltbild vermeiden.

Wenn mein Gesamtbild einfach und in sich stimmig ist und alle Erscheinungen korrekt beschreibt, liegt das fast sicher daran, dass ich die Muster und Regeln der Welt an sich sehr gut erkannt habe (siehe den Artikel Das Induktionsprinzip).

6. Überflüssige und zwingend nötige Elemente

Angenommen, ich habe ein Weltbild, das meine Wahrnehmungen korrekt beschreibt. Dann kann dieses Weltbild dennoch auch unnötige Elemente enthalten. So glaubte z. B. Johannes Kepler, die Planeten würden durch Engel auf den von ihm beschriebenen Bahnen gehalten. Spätere Physiker sahen, dass diese Engel durch ein Kraftfeld ersetzt werden können und erwähnten sie nicht mehr. Unnötige Elemente einer Theorie können also entdeckt und eliminiert werden. Unnötige Elemente sollen immer eliminiert werden, wenn dadurch das Gesamtbild einfacher wird, wenn also das Gesamtbild ohne dieses Element weniger Information benötigt als mit.

Ob das Gesamtbild einfacher wird, kann zwar nicht immer eindeutig entschieden werden. In vielen Fällen, wie etwa bei den Planeten steuernden Engeln, ist es aber offensichtlich. Ein Kraftfeld ist einfacher als Tausende von Engeln. Denn bei den Engeln wäre nicht einzusehen, weshalb sie als denkende Wesen so strikten Bahnen folgen sollten. Es wäre auch nicht klar, woher sie kommen, wie sie leben, wozu sie das überhaupt tun. Ein Engel, der für einen Planeten zuständig ist, müsste sich in tausend Engel aufspalten, wenn ein Meteorit den Planeten zertrümmert! Die Idee mit den Engeln wirft tausend neue Fragen auf und beantwortet nur eine einzige, die auch viel einfacher beantwortet werden kann.

Meine Argumente zum Induktionsprinzip erlauben nun den Schluss, dass es in der Welt an sich keine Gravitations-Engel gibt. Denn wo wir eine einfache Beschreibung finden, liegt fast sicher keine komplizierte Wirklichkeit zu Grunde.

Schwieriger ist es, herauszufinden, ob ein Element zwingend nötig ist, um bestimmtes Phänomen zu beschreiben. Wenn wir z. B. nachweisen könnten, dass in jeder korrekten Beschreibung der Welt das Element Zeit vorkommen muss, wäre bewiesen, dass es auch in der Realität ein Element Zeit geben muss.

Im Artikel zum Einstein-Podolsky-Rosen Experiment habe ich dazu das folgende Realitätskriterium formuliert:

Realitätskriterium
Wenn wir ein mathematisches Element zur Berechnung eines Experimentes zwingend brauchen, so existiert in der Natur ein Äquivalent zu diesem Element. Ein solches Element nenne ich real.

Allerdings unterscheiden sich die Beschreibungen zum Teil erheblich, so dass z. B. Begriffe der einen Theorie wie ‘Teilchen’ oder ‘Zeit’ kaum als die ‘Teilchen’ oder die ‘Zeit’ einer anderen Theorie identifiziert werden können. Bei anderen Begriffen ist die Situation keineswegs besser.

“Real” kann daher nur bezogen auf ein bestimmtes Weltbild ein sinnvolles Attribut sein. Im Sinne von: “In diesem Weltbild ist xy ein unentbehrliches Element. Ohne dieses Element wären gewisse Erscheinungen nicht mehr korrekt beschrieben, wenn wir nicht ein grundsätzlich anderes Weltbild zugrunde legen”

Wenn ich aber ein Weltbild habe, das erstens einfach ist und zweitens mit all meinen Beobachtungen übereinstimmt, kann ich mit guten Gründen davon ausgehen, dass ich die Muster und Regeln der Welt an sich richtig erfasst habe. Mein Weltbild entspricht dann der Realität. Dies begründe ich im Artikel zum Induktionsprinzip.

7. Schlussbemerkung

Dieses Realitätskriterium taugt übrigen auch zur Abgrenzung von Pseudowissenschaften. Ob eine Behauptung haltbar ist oder nicht, kann meist am besten beurteilt werden, wenn man versucht, sie in ein Gesamtbild von der Welt zu fügen. Z. B. die Vorstellung, Telepathie könnte funktionieren, ist für sich genommen kaum als unwissenschaftlich zu entlarven. Weshalb eigentlich nicht?

Wenn ich aber versuche, die Telepathie in ein Gesamtbild zu fügen, muss ich mir Fragen stellen wie etwa:

– Weshalb kommt sie so selten vor?
– Weshalb kommt sie fast nur in Fällen vor, die evolutionstheoretisch kaum einen Nutzen bringen?
– Weshalb ist es nie gelungen, sie eindeutig nachzuweisen?
– Weshalb hängt sie allem Anschein nach kaum von der Distanz ab?
– Auf welchem physikalischen Phänomen beruht das Ganze?
– Werden dadurch keine bekannten Gesetze der Physik verletzt? Und falls doch: Wie muss die Physik abgeändert werden?
– Weshalb kann dieses Phänomen nicht von Physikern nachgewiesen werden?

Bevor ich alle diese Fragen beantworte, überlege ich mir vielleicht lieber noch einmal:
– Gibt es für die wenigen Fälle, in denen möglicherweise Telepathie auftrat, nicht auch einfachere Erklärungen?

Weiterführende Artikel auf dieser Homepage

Wozu ist Bewusstsein gut?
Experimente und Fakten zum Bewusstsein
Die Rolle des Beobachters in der Quantentheorie
Sind Teilchen, die niemand beobachtet real?
Gibt es leere Wellen?
Das Einstein-Podolsky-Rosen Experiment

Weiterführende Bücher

Philip Wehrli, ‚Das Universum, das Ich und der liebe Gott‘, (2017), Nibe Verlag,

Das Universum, das Ich und der liebe Gott

In diesem Buch präsentiere ich einen Gesamtüberblick über mein Weltbild: Wie ist das Universum entstanden? Wie ist das Leben auf der Erde entstanden? Was ist Bewusstsein und woher kommt es? Braucht es dazu einen Gott?
Viele Artikel dieses Blogs werden in diesem Buch in einen einheitlichen Rahmen gebracht, so dass sich ein (ziemlich) vollständiges Weltbild ergibt.

Leserunde bei Lovelybooks zum Buch ‚Das Universum, das Ich und der liebe Gott‘, von Philipp Wehrli (abgeschlossen)

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