Der kartesische Dämon oder was wir wissen können

Der kartesische Dämon oder was wir wissen können

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Philipp Wehrli, 21. Oktober 1998

René Descartes wollte sich nirgends auf Annahmen und Glauben verlassen, sondern eine unbezweifelbar wahre Philosophie und Naturwissenschaft schaffen. Grundbaustein seiner Philosophie sollte der unbezweifelbare Satz “cogito ergo sum” sein: “ich denke, also bin ich”. Mit dem faszinierenden Gedankenexperiment vom kartesischen Dämon begründete er diesen radikalen Skeptizismus.

Kurze Einleitung

Stellen Sie sich vor, wir befänden uns im Jahr 3125 n.Chr.. Das Forschungsteam unter Professor A. Haperkloz sei gerade im Begriff, zu einer weiteren Phase seiner bereits berühmt gewordenen Forschung über die Täuschbarkeit des menschlichen Gehirns mittels elektrischer und chemischer Reizungen zu schreiten. Nach jahrelanger intensiver Erforschung menschlicher Gehirne scheint nun die perfekte Täuschung Wirklichkeit geworden zu sein: Ein menschliches Gehirn sei von Geburt an losgelöst vom Körper in einer Nährlösung frisch gehalten worden. Und diesem Gehirn konnte während Jahrzehnten eine vollständige Welt derart perfekt vorgetäuscht werden, dass das Gehirn heute absolut überzeugt ist, es sei ein lebender Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts.

Allein die Sehnerven würden über Tausende von Elektroden mit einem naturgetreuen Bild versorgt. Ebenso würden mittels Elektroden Gehör, Gefühl, Geruch und Geschmackssinn simuliert. Dabei hätte das Gehirn durchaus einen freien Willen. Denn unzählige Sensoren registrieren jede Spannungsänderung der Nerven, und wenn das Gehirn glaubt, es drehe den Kopf, so simuliert ein eigens dafür geschaffenes Computerprogramm eine perfekte Kopfdrehung, indem es über Rückkoppelung die Spannung der Halsmuskulatur nachahmt und das Blickfeld in Übereinstimmung mit der fiktiven Drehung verändert. Auf analoge Weise werden sämtliche Körperbewegungen perfekt vorgetäuscht, so dass das Hirn tatsächlich glaubt, es sei ein lebender Mensch. Auf diese Weise in eine virtuelle Realität versetzt, würde das Retortengehirn des 32. Jahrhunderts beschwören, es bewege sich frei nach eigenem Willen durch eine reale Welt, zum Beispiel durch die Welt um rund 2006 n. Chr..

In dieser letzten Phase des Projektes, die soeben im Gang ist, wird dem Gehirn eine kurze und allgemeinverständliche Beschreibung des Experimentes in deutscher Sprache des frühen 21. Jahrhunderts vorgelegt werden, getarnt allerdings als Artikel auf einer Homepage mit dem Namen “Fragen Rätsel Mysterien – Cartesischer Dämon”. Professor Haperkloz ist überzeugt, dass das Gehirn diesen Text für eine Science fiction Phantasie halten wird, und keinen Moment auf die Idee käme, selber das Gehirn in der Nährlösung zu sein.

Der kartesische Dämon

Die Idee einer derartigen Täuschung stammt vom Philosophen und Mathematiker René Descartes (1596-1650). Descartes dachte dabei allerdings nicht an eine Gruppe futuristischer Wissenschaftler, die in einer realen Welt eine sehr ähnliche fiktive Welt vortäuschen. Er dachte vielmehr an einen Dämon, der vielleicht in einer völlig andersartigen Natur lebt, und eine vollständig neue Welt erfindet, lediglich um Descartes zu täuschen. Alles was er, Descartes, sieht, was er hört, fühlt, riecht und schmeckt könnte letztlich nur Illusion sein, das Machwerk eines bösen Dämons, der ihn, Descartes, täuschen will.

Der Höhepunkt der Täuschung wäre nach Descartes eine Welt in der nur Descartes’ Bewusstsein und der Dämon, der dieses Bewusstsein täuschte, wirklich existierten. Gäbe es noch ein weiteres Bewusstsein, sozusagen einen Zuschauer dieser dämonischen Täuschung, so hätte Descartes wenigstens in der einen Vorstellung recht, dass es neben seinem noch ein weiteres Bewusstsein wie sein eigenes gibt. In diesem Sinne bezweifelt Descartes alles bis auf sein eigenes Bewusstsein, er bezweifelt also auch die Existenz des eigenen Körpers und sogar des Gehirns, dessen Wahrnehmung lediglich auf Täuschung beruhen könnte.

Es geht dabei nicht um die Frage, wie wahrscheinlich diese Vorstellung einer dämonischen Täuschung ist. Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob wir als täuschbare Wesen überhaupt etwas wissen können, ob es also Fragen gebe, in denen wir auch vom mächtigsten Dämon nicht getäuscht werden können.

Die rötlichen Strahlen der untergehenden Sonne, die Klänge einer Mozartsymphonie, der Geruch eines reifen Pfirsichs, all diese Wahrnehmungen werden von unseren Sinnen in Nervenimpulse umgewandelt, und diese Nervenimpulse sind letztlich das, was wir von der Welt wirklich wahrnehmen. Ob diese Nervenimpulse auch tatsächlich auf die Weise entstanden sind, wie wir uns dies vorstellen, können wir niemals feststellen. Selbst wenn man an übersinnliche Wahrnehmung glaubt, an eine plötzliche innere Gewissheit, die nicht durch physikalische Faktoren begründet ist (was immer das heisst), kann man nicht ausschliessen, dass nicht ein Dämon diesen ‘Übersinn’ täuschen könnte.

Cogito ergo sum

Weil aber eine solche Täuschungsmöglichkeit besteht, so schloss Descartes, bleibt als einziges unbezweifelbares Wissen das Wissen um die Existenz des eigenen Bewusstseins. Alles kann Täuschung sein, aber damit eine Täuschung zustande kommen kann, muss ein Bewusstsein existieren, das getäuscht wird. Descartes formulierte diese Erkenntnis in den berühmten Satz: „Cogito ergo sum“, „Ich denke, also bin ich.“

Manche Philosophen, zum Beispiel David Hume (1711-1776), hielten die Existenz des Bewusstseins nicht für zwingend und behaupteten, Descartes müsste konsequenterweise auch am eigenen Bewusstsein zweifeln. Hume sagte, bei der nach innen gerichteten Betrachtung ‘stolpere’ er zwar jedesmal über Vorstellungen und Gefühle. Nirgends aber fände er ein von diesen Gedankengebilden getrenntes Selbst.

Descartes hätte auf dieses Argument wohl ungefähr geantwortet: „Wenn ich bezweifle, dass ich zweifle, dann muss irgend etwas da sein, das zweifelt. Und selbst wenn dieses zweifelnde Ich in allem und jedem sich täuscht und von einer ganz anderen Natur ist, als es sich dies vorstellt, so muss es doch existieren. Es mag sein, dass ich in allem, was ich sehe, höre und fühle, getäuscht werde. Aber um getäuscht zu werden, muss ich zumindest existieren.“

Wie könnte das Nichts derart getäuscht werden, dass es sich als Ich fühlt? Allein durch eine solche Täuschung würde aus dem Nichts ein Ich! Oder kann man sich denn fälschlicherweise als Ich fühlen?

Allerdings blieb Descartes in seinem Skeptizismus nicht konsequent. Er meinte, kein noch so geschickter Dämon könne jemals etwas völlig Neues erfinden. Wie ein Dichter oder Künstler seine Fabelfiguren wie Kentauren, Pegasus und Greife nur aus Körperteilen zusammensetzt, die bereits in der wirklichen Natur vorkommen, so könne auch ein Dämon nichts wirklich Neues schaffen, sondern lediglich die vorhandenen Eigenschaften einer wirklichen Welt neu verknüpfen.

Ausserdem schloss er etwas kühn aus der Existenz des Ichs auf die Existenz eines Schöpfers, denn jede Wirkung müsse auch eine Ursache haben, und wo ein Ich existiere, da gebe es auch einen Gott. Weiter glaubte Descartes, dieser Gott hätte niemals einen täuschungssüchtigen Dämon in seiner Welt zugelassen, denn der Gott sei mit Sicherheit ein vollkommenes Wesen, und deshalb könne auch die Aussenwelt keine Täuschung sein.

Nur wenige zeitgenössische Philosophen folgen dieser Argumentation. Zum Beispiel ist sehr zweifelhaft, ob jede Wirkung eine Ursache haben muss. Die Experimente der Quantenphysik lassen jedenfalls vermuten, dass viele Wirkungen nicht auf einer Ursache, sondern auf Zufall beruhen. Aber selbst wenn es anders wäre, weshalb sollte diese Ursache ein vollkommenes Wesen, ein Gott, sein? Und in welchem Sinne würde es der Vollkommenheit dieses Wesens schaden, wenn es einen Menschen täuschte?

Natürlich bedeutet dies nicht, dass Descartes in seinen Schlussfolgerungen unrecht hatte. Sicher ist nur, dass diese Schlussfolgerungen nicht auf jener unbezweifelbaren Grundlage stehen, die Descartes sich ursprünglich von seinem Weltbild gewünscht hatte.

Weiterführende Artikel auf dieser Homepage:

Solipsismus
Haben Tiere ein Bewusstsein?

Weiterführende Bücher:

Poundstone William, ‚Im Labyrinth des Denkens – Wenn Logik nicht weiterkommt: Paradoxien, Zwickmühlen, Sackgassen, Rätsel und die Hinfälligkeit des Wissens‘, (1992), Rowohlt Verlag GmbH.
Ein scharfsinniges Buch für scharfsinnige Denker, unterhaltsam geschrieben.

 

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