Bewegte Uhren gehen langsamer – Experimente zum Zwillingsparadoxon

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Philipp Wehrli, 2. Januar 2002

Aus dem Alltag sind wir gewohnt, dass unsere Uhren immer gleich schnell laufen, egal was wir tun. Erst wenn die Batterie verbraucht ist oder die Uhr kaputt geht, stimmt dies nicht mehr. In Wirklichkeit stimmt dies aber nicht exakt. Wenn ich zwei exakt gleiche und absolut präzise Uhren im Punkt A exakt gleich stelle und sie danach auf verschiedenen Wegen zu einem Punkt B trage, dann zeigen sie nicht mehr unbedingt die gleiche Zeit an. Dabei können die Punkte A und B auch identisch sein. Dieser Effekt wird in den Relativitätstheorien beschrieben, die Albert Einstein in den Jahren 1905 und 1914-1916 formulierte. Dabei sind die folgenden zwei Effekte zu unterscheiden:

1.) Schnell bewegte Uhren gehen langsamer.

2.) Uhren im Gravitationsfeld, also in der Nähe einer grossen Masse gehen langsamer.

Der erste Effekt wird durch die spezielle, der zweite durch die allgemeine Relativitätstheorie erklärt. Das Experiment wurde hundertfach und mit völlig verschiedenen Uhren durchgeführt. Alle Uhren gehen langsamer, wenn sie bewegt sind, und sie laufen alle nach den gleichen Gesetzen, die Einstein in der Relativitätstheorie vorhersagte. Messbar wird dies allerdings erst, wenn die Bewegung sehr schnell, wenn möglich fast mit Lichtgeschwindigkeit erfolgt. Vier solche Experimente möchte ich kurz schildern.

Weil die Versuche mit völlig verschiedenen Uhren funktionieren, nehmen die Physiker an, dass auch für Lebewesen die Zeit langsamer läuft, wenn sie schnell bewegt werden. D. h. die Passagiere haben während des Fluges mit hoher Geschwindigkeit auch weniger Zeit, sich Gedanken zu machen oder sich zu langweilen. Wenn ein Zwilling in Ruhe auf der Erde bleibt, während sein Zwillingsbruder annähernd mit Lichtgeschwindigkeit eine weite Reise macht, wird der Zwilling auf der Erde bei der Rückkehr des anderen viel älter sein als jener. Bei einem gewöhnlichen Flug mit gewöhnlichen Uhren ist der Effekt natürlich nicht messbar, weil die Geschwindigkeit viel zu klein ist.

1.) 1972 führten Joseph Hafele und Richard Keating mehrere Experimente mit zwei genau gleichen Cäsium-Atom-Uhren durch. Sie stellten die beiden Uhren exakt gleich und legten dann die eine in ein Flugzeug, das einmal um die Erde flog. Als das Flugzeug wieder zurückkehrte, verglichen sie die Uhren miteinander. (Sex 2) oder (Sex 3)

Bei diesem Experiment muss berücksichtigt werden, dass die Uhren, welche auf der Erde zurückgelassen werden, nicht in Ruhe sind. Sie werden vielmehr mit der Erdrotation mitgedreht. Die Uhren, welche die Erde in östlicher Richtung umkreist hatten, bewegten sich weniger als die Uhren auf der Erde. Sie gingen um 273±7 Nanosekunden vor. Die Uhren, die in westlicher Richtung flogen, gingen um 59±10 Nanosekunden nach, weil sie schneller bewegt wurden als die Uhren auf der Erde. Die Resultate stimmen exakt mit Einsteins Theorie überein.

2.) Die Verlangsamung der Zeit spielt in der Raumfahrt eine grosse Rolle. Bei Satelliten und Raumsonden ist es enorm wichtig, dass die Uhren sehr exakt stimmen, weil sonst die Navigation nicht funktionieren oder zuviel Energie kosten würde. Ausserdem haben diese Sonden oft grosse Geschwindigkeiten. Aus diesen Gründen wird der Effekt der Zeitverlangsamung in der Raumfahrt täglich sehr genau gemessen, wobei immer eine exakte Übereinstimmung mit Einsteins Theorie gefunden wurde.

3.) Wenn Teilchen aus dem Weltall auf die Atmosphäre prallen, entstehen spezielle Teilchen, die Myonen. Man kann solche Teilchen auch im Labor herstellen und weiss von da, dass diese in sehr kurzer Zeit zerfallen. Eigentlich zerfallen die Myonen so schnell, dass sie den langen Weg durch die Atmosphäre niemals ganz zurücklegen könnten, selbst wenn sie ungeheuer schnell fliegen würden. Dennoch treffen die Myonen fast alle unversehrt auf dem Erdboden auf. Was ist geschehen?

Weil die Myonen sehr schnell fliegen, steht ihre Zeit fast still. Sie zerfallen deshalb viel langsamer und können dadurch auch den weiten Weg durch die Atmosphäre überstehen. (Sex 2)

4.) Genau das Gleiche kann täglich in vielen Teilchenbeschleunigern auf der ganzen Welt beobachtet werden. Die Teilchenphysiker haben es oft mit Teilchen zu tun, die sehr rasch in andere Teilchen zerfallen. Sie befinden sich deshalb in einer sehr ähnlichen Lage, wie Jasmin mit dem toten Zwilling. Sie müssen versuchen, die Zerfallszeit irgendwie zu verlangsamen, damit sie mehr Zeit für ihre Messung haben. Dies machen sie wie Jasmin so, dass sie die Teilchen auf ihre Achterbahn schicken. Das sind oft kilometerlange Teilchenbeschleuniger, wie etwa das Cern in Genf. Allerdings fliegen die Teilchenphysiker anders als Jasmin bei ihren Experimenten nicht mit den untersuchten Teilchen mit. (Sex 2)

Die Verlangsamung der Zeit ist etwas sehr Seltsames, und vielleicht denken Sie jetzt: Das verstehe ich nicht! Es gibt auch gar nicht viel zu verstehen. Aufgrund der geschilderten Experimente können wir nur sagen, dass die Welt eben so seltsam ist. Wenn Sie sich weiter mit der Relativitätstheorie auseinandersetzen, werden Sie feststellen, dass diese Seltsamkeit der Natur zu keinen logischen Widersprüchen führt und dass sie sich sogar in eine äusserst elegante Theorie zusammenfügt. Mehr verstehen auch die Experten heute nicht. Aber auch wenn wir nicht verstehen, weshalb die Natur so seltsam ist, dürfen wir uns ja doch darüber wundern und daran freuen, nicht wahr?

Weiterführende Artikel auf dieser Homepage:

Spezielle Relativitätstheorie
Effekte der Allgemeinen Relativitätstheorie
Antimaterie
Überlichtgeschwindigkeit

Weiterführende Bücher:

Brandes Jürgen, ‘Die relativistischen Paradoxien und Thesen zu Raum und Zeit – Interpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie’, (1995), Verlag relativistischer Interpretationen – VRI, Karlsbad
Eine wunderschöne Zusammenstellung aller Fragen, welche die Relativitätstheorie verwirrend machen. Z. B.: Garagenproblem, Woodsches Paradoxon, Deckelparadoxie, Ehrenfes-Paradoxie, Zwillingsparadoxon.
Brandes Lösung: Das Problem durchrechnen und feststellen, dass nichts paradox ist.

Einstein Albert, ‘Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, gemeinverständlich’, Springer, (1916)
Nach wie vor eine der besten Einführungen in die Relativitätstheorie, das Werk von ihrem Schöpfer selbst.

Sexl / Raab / Streeruwitz, ‘Materie in Raum und Zeit – Eine Einführung in die Physik, Band 3’, (1980), Sauerländer

Wie alle Bücher von Sexl didaktisch hervorragend und sehr sorgfältig geschrieben. Eine erste Einführung in die moderne Physik auf Abitur- bzw. Maturitätsniveau. Weniger ausführlich als Sex 2, dafür enthält es auch noch andere Bereiche der modernen Physik auf sehr elementarem Niveau.

Sexl Roman, Schmidt Herbert K., ‘Raum-Zeit-Relativität’, (1989), Vieweg Studium, Braunschweig

Wie alle Bücher von Sexl didaktisch hervorragend und sehr sorgfältig geschrieben. Eine erste Einführung in die moderne Physik auf Abitur- bzw. Maturitätsniveau. Etwas ausführlicher als Sex 1.

 

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